„Sag doch einfach, was du brauchst.“
Ein Satz, der gut gemeint ist. Und doch für viele neurodivergente Menschen zum Stolperstein wird. Wer mit Autismus, ADHS oder anderen neurologischen Besonderheiten lebt, kennt das Gefühl: Das Problem ist nicht, nicht reden zu wollen, sondern oft nicht reden zu können. Oder gar nicht genau zu wissen, was man braucht.
In diesem Beitrag beleuchten wir, warum Kommunikation im Arbeitskontext für neurodivergente Personen so komplex sein kann und was Unternehmen tun können, um wirklich inklusive Gesprächsräume zu schaffen.
Kommunikation ist nicht für alle gleich leicht
Neurotypische Kommunikation basiert oft auf Erwartungen wie:
- spontane Klarheit
- direkte Bedürfnisäußerung
- emotionale Selbstwahrnehmung in Echtzeit
Für viele neurodivergente Menschen ist das nicht realistisch. Bei Autist*innen fehlt oft die direkte Verbindung zwischen innerer Reizlage und sprachlichem Ausdruck. ADHSler*innen erleben starke Impulse, aber können sie schwer filtern oder benennen.
Ergebnis: Innen passiert viel und außen kommt oft wenig an.
Die Last der Sichtbarkeit
Viele neurodivergente Mitarbeitende leisten täglich enorme „unsichtbare“ Anstrengung: Reize kompensieren, Emotionen regulieren, soziale Codes entschlüsseln.
Wenn sie dann nicht sagen, was sie brauchen, heißt das nicht, dass sie es nicht wissen, sondern oft, dass sie es nicht zeigen wollen. Aus Angst, negativ aufzufallen. Oder, weil sie nicht gelernt haben, dass es überhaupt erlaubt ist, Bedürfnisse zu äußern.
Warum „Fragen stellen“ nicht reicht
Es ist ein Fortschritt, wenn Führungskräfte fragen: „Was brauchst du?“
Aber es reicht nicht.
Denn echte Kommunikation braucht:
- Vertrauen, dass die Antwort willkommen ist
- Zeit, um die Antwort zu finden
- Wissen, dass sich das Gegenüber ernsthaft interessiert
Wenn diese Bedingungen fehlen, kann selbst eine gut gemeinte Frage wie ein Test wirken oder wie eine Zumutung.
Was stattdessen hilft
Statt Kommunikation zur Bringschuld neurodivergenter Mitarbeitender zu machen, sollten Teams Strukturen schaffen, die Gespräche erleichtern:
- Regelmäßige, feste Check-ins, in denen offen nach Arbeitsweise, Energielevel oder Belastung gefragt wird
- Visuelle Tools, z. B. Stimmungs-Slider, Ampelsysteme oder Feedback-Formulare
- Nichtsprachliche Optionen, z. B. schriftlich statt mündlich Feedback geben können
- Offene Sprache, z. B. „Du musst es nicht sofort wissen, wenn dir später etwas auffällt, komm gern auf mich zu.“
Fazit
Inklusion beginnt nicht beim Reden. Sie beginnt bei der Bereitschaft zuzuhören, auch dann, wenn es leise wird.
Wer wirklich will, dass neurodivergente Menschen sagen, was sie brauchen, muss ihnen helfen, sich selbst darin zu finden. Und dafür braucht es mehr als Fragen. Es braucht Raum, Zeit und Sicherheit.
Praxis-Tipp: Fragen, die Gespräche erleichtern können
(Einsetzbar in Check-ins, Mitarbeitergesprächen oder Retrospektiven)
- Gibt es etwas, das dir im Moment Energie raubt oder hilft?
- Welche Form von Kommunikation ist für dich angenehm (Mail, Chat, 1:1)?
- Gibt es etwas, das du brauchst, um dich besser konzentrieren zu können?
- Welche Routinen oder Tools funktionieren für dich gut oder gar nicht?
- Was wäre hilfreich, wenn du dich überfordert fühlst?

Tobias Tischmeyer
Co-Founder Differgy